(von Martin Rosowski)
Die offensichtliche Tatsache, dass klassische Theologie in der Wissenschaftsgeschichte ausschließlich von Männern geprägt war, hat nicht nur in der feministischen Theologie zu der weit verbreiteten Fehleinschätzung verführt, es gäbe neben der Theologie aus Frauensicht immer schon so etwas wie eine männliche Theologie. Die klassische Theologie mag man patriarchal nennen, doch deshalb war sie noch längst nicht männerspezifisch.1 Anders wäre die historische Abwanderung der Männer aus der Kirche nicht zu erklären. Wie also sieht eine Theologie aus, die Männern gerecht wird?
Männlichkeiten
Im Kontext geschlechtergerechter Theologie entdecken zunehmend auch männliche Wissenschaftler die männliche Erfahrung als Gegenstand ihres theologischen Forschungsinteresses und erproben in der Literatur wie in exemplarischen Fachkongressen eine angemessene Methodik dafür.2 Dabei hält sich noch immer gerade in der religionspädagogischen Einschätzung das hartnäckige Klischee vom emotionalen und spirituellen Vakuum, das den Mann unfähig mache, die eigene konkrete Lebenswirklichkeit sinnlich zu überschreiten. Neuere empirische Studien zu Sinn-Konstruktionen von Männern machen jedoch deutlich, dass die oft im religiösen Alltag anzutreffende Schwierigkeit, als Mann über Transzendenz, Gott und Glaube zu sprechen, keineswegs gleichbedeutend ist mit einer grundsätzlichen Unfähigkeit, Spiritualität ganz konkret erleben und artikulieren zu können. Männer fühlen sich sehr wohl spirituell kompetent – doch sie legen hohen Wert darauf, ihre religiösen Erfahrungen selbstbestimmt zu gestalten und ihnen ihre eigene männliche Stimme zu geben.
Dabei ist es entscheidend, eine Verallgemeinerung vermeintlicher spezifischer Erfahrungen und daraus resultierender Verhaltensweisen zu vermeiden. Es kann ebenso wenig eine Theologie für Männer geben wie es eine männliche Spiritualität gibt. Um der Vielfalt männlichen Lebens gerecht zu werden und von vornherein einengenden und normierenden Männlichkeitsmustern entgegenzutreten, ist von Männlichkeiten im Plural zu sprechen.4 Hinzukommt, dass sich Männer neben den kulturellen oder sozialen Konstruktionen und neben der biologischen Disposition auch als Individuen ihre ganz persönlichen Männlichkeiten inszenieren.5
Natur
Viele Männer behaupten für sich eine spirituelle Affinität zur Natur. Sie möchten wissen, wie ihre Welt funktioniert. Nicht dieses Wissen an sich ist sinnstiftend, sondern wie man die Welt in ihren Ordnungen erfährt. Die Natur spielt in solchen männlichen Kosmologien eine entscheidende Rolle. Die traditionellen kirchlichen Lehren hingegen tun sich schwer mit Verbindungen zwischen Natur und Religion, obwohl es die Bibel ist, die immer wieder in starken Bildern aus der Natur Gott als den Herrn der Schöpfung preist. Und gerade weil viele Männer diese Skepsis spüren, trauen sie der Kirche nicht mehr zu, ihnen die spirituellen Gegenwelten zu eröffnen, die sie angesichts ihres als fremdbestimmt erlebten Alltages suchen.6
Auch in der kirchlichen Männerarbeit sind Strömungen zu verzeichnen, die dieser Entwicklung geschuldet sind. Die Angebote für Visionssuche – spirituelle Selbsterfahrung und Lebensreflexion in der Natur – Waldexerzitien oder Auszeiten in der Natur wachsen unter dem Dach des Netzwerkes „Schöpfungsspirit“ ebenso wie das Interesse an Initiationsriten a la Richard Rohr oder der „Nacht des Feuers“, in der Väter und Söhne gemeinsam ein Ritual am Übergang des Jungen zum Mann erleben. Die Männer suchen nach Krafträumen, die sie sich von der Begegnung mit der Natur und mit entsprechenden naturmystischen Traditionen auch des christlichen Glaubens erhoffen.7
Mystik
Es gehört auch zu den Herausforderungen männergerechter Theologie, sich diesen Sehnsüchten nach ursprünglicher archaischer Spiritualität zu stellen und zugleich immer wieder deutlich zu machen, dass es auch eine männliche philosophische Spiritualität als Tradition christlicher Theologiegeschichte gibt. Wohl in keiner Wesensart einer Religion wird ihr spiritueller Gehalt deutlicher als in der Mystik, also dem Raum, in dem die Außenwelt ausgeschlossen (myein) bleibt, um in das eigene Innere zu gehen. Die deutsche Mystik erfuhr ihre Höhepunkte in zwei Phasen: der Mystik der Frauen des 12./13. Jh. und der philosophischen Mystik – zugespitzt könnte man sagen: der Männer – des 13. und 14. Jh..
Für die Männer steht vor allem Meister Eckhart. Er ist so etwas wie ein rationaler Mystiker. Eckart berichtet nicht wie die Frauen von Visionen, Auditionen oder Träumen. Ekstatische Erfahrungen und Erlebnisse scheinen ihm fremd gewesen zu sein. Er warnt regelrecht vor einem mystischen Überschwang frommer Gefühle. Skeptisch verhält er sich auch gegenüber Methoden der Askese, um auf diese Weise Vollkommenheit zu erlangen. Auch dem Rückzug in die Einsamkeit, um dort Gott zu finden, redet er nicht das Wort. Man hat Eckharts Mystik oft auch als rationale Mystik bezeichnet, weil es ihm vor allem darauf ankommt, Gott zu denken – und dann aus dem Erkennen und „erkennenden Erfahren“ Gottes in der Seele heraus die Welt, die Dinge, die Menschen und ihr Tun zu bedenken. Diese Mystik ist keine Mystik der reinen Versenkung, sondern eine Mystik, die den Blick auf das Wesentliche, nämlich den Menschen und seine sozialen Bedürfnisse richtet.8
Doch auch unsere moderne Zeit hat Mystiker hervorgebracht, Männer wie Frauen. Für die Männer steht einer, von dem man es nie gedacht hätte. Ein Vollblutpolitiker. Ein Mann, der sich für den Frieden in der Welt stark machte. Der zweite UN-Generalsekretär: Dag Hammarskjöld. Nach seinem Flugzeugabsturz fand man sein Tagebuch und entdeckte ihn als den modernen Mystiker schlechthin. Ein Mann der in höchster weltlicher Verantwortung stehend, immer wieder die Dynamik der Bewegung von innen nach außen als seine Kraftquelle nutzte. Er hinterließ sein Tagebuch, man könnte den englischen Titel „Markings“ vielleicht als „Wegmarken oder Zeichen am Wege“ übersetzen, als ein Vermächtnis seiner Verpflichtung zu einem Weg durch das Kreuz. Das spirituelle Vermächtnis eines großen Mannes, das in keinem Wort auf seine große Karriere im öffentlichen Raum Bezug nimmt. Er selbst beschrieb sein Manuskript als ein „Weißbuch seines Ringens mit sich und mit Gott“. Das sei das wahre Profil seines Lebens.9
Körper
Es gehört nicht zu den Selbstverständlichkeiten männlichen Lebens, eine positive lustvolle Beziehung zum eigenen Körper zu entwickeln. Zu prägend sind oft die Sozialisationsmuster, die den männlichen Körper funktional und leistungsorientiert definieren. Die Bibel lehrt uns, unserer Begrenztheit und Verletzlichkeit gewiss zu sein. Aus diesem Wissen soll Achtsamkeit und Respekt vor dem eigenen Körper erwachsen. Selbstliebe angesichts unserer Ebenbildlichkeit Gottes ist Voraussetzung für authentische Nächstenliebe. Die Spiritualität lebt vom Zusammenspiel zwischen Contemplativa und Activa, um eben nicht in der Versenkung gefangen zu bleiben – wenn also von dem Verhältnis zwischen Spiritualität und Körper gesprochen wird, dann nicht ausschließlich im Sinne einer separierten Erfahrung der eigenen Körperlichkeit , sondern zugleich von der Beziehung des Körpers zu anderen. Angesichts der latenten Homophobie in unserer Gesellschaft und unserer Kirche entbehrt dieses Denkschema nicht einer gewissen Brisanz. Die körperliche und seelische Beziehung zu anderen Männern ist mit Skepsis, Abwehr und Angst besetzt und zugleich brauchen Männer die Nähe zum anderen Mann, empfinden sie Freundschaft als wohltuende Befreiung von Konkurrenz und Selbstinszenierung.10
Die Bibel weiß um diese Ambivalenz und bringt sie vor allem in einer besonderen Männergeschichte, der Geschichte von David und Jonathan (1. Sam. 18,1-4), zum Ausdruck. Am Ende einer Beziehung zweier Männer jenseits der gesellschaftlichen Normen und Hierarchien beschreibt David die Freundschaft im Rückblick als „wundersamer als Frauenliebe“. Und dabei geht es nicht um die Abgrenzung gegenüber den Frauen, sondern darum, sich als Mann vorbehaltlos einem Mann anzuvertrauen, die Konkurrenz aufzugeben und die Liebe zum eigenen Geschlecht wieder zu entdecken und schätzen lernen zu können. In einer solchen Erfahrung kann ein enormer spiritueller Gehalt liegen.11
Freiheit
Das spirituelle Lebensgefühl vieler Männer ist von der Herauslösung aus Fremdbestimmung geprägt. Wenn für sie der neutestamentliche Kernbegriff Freiheit Relevanz haben soll, dann in diesem Sinne. Dabei ist die Vermittlung gerade unseres reformatorischen Freiheitsverständnisses nicht so ganz einfach, da es ja um die Ambivalenz der Freiheit in Bindung geht. Und doch bietet gerade dieses Spannungsverhältnis von Freiheit und Bindung eine wichtige Alternative zum heute weit verbreiteten Entweder-Oder der Lebensorientierungen: Das Angebot besteht in einem ausgewogenen Sowohl als Auch, sowohl Leistung als auch Achtsamkeit und Sensibilität, sowohl Erfolg als auch Scheitern, sowohl Macht als auch Ohnmacht – als jeweils zwei Seiten einer Medaille. Es wird darauf ankommen, diesen Freiheitsbegriff nachvollziehbar auf die einengenden und normierenden Lebenswirklichkeiten von Männern in Kontrast zu setzen.12
Männer suchen Anlässe der Gemeinschaft, die ganz konkret ihren Lebensgefühlen entsprechen. Auf dem Pilgerweg, bei stillen Tagen im Kloster, auf Visionssuche, in der Einsamkeit der Natur oder meditativen Wanderungen machen sie spirituelle Erfahrungen, die sie anerkannt und nicht der dogmatischen Überprüfung unterzogen wissen wollen. Sie haben Fragen, auf die sie aber keine einfachen Antworten wollen. Sondern sie suchen in Gesprächen nach Annäherungen an solche Antworten, die ihren Erfahrungen entsprechen. Daher müssen die Lebenssituationen der Männer und die Gesprächsangebote der Kirche zueinander passen (Tillich: korrelieren). Sie müssen sich auf Augenhöhe begegnen.13
Ob wir wollen oder nicht, werden wir Kirchen als wichtige spirituelle Agenturen unserer Gesellschaft identifiziert. Darauf müssen wir reagieren, indem wir auch bereit sind, uns in unseren Formen zu verändern und zu erweitern: Kommunikationsstrukturen, Gesellungsformen, Sprachmuster und thematische Schwerpunkte, die das Leben von Kirchen prägen – wie im übrigen aller religiöser Gemeinschaften –, stehen gleichermaßen auf dem Prüfstand, wen sie erreichen und wen sie außen vor lassen. Es liegt in unserer Verantwortung als Kirche, Räume zu schaffen, in denen Männer und Frauen unterschiedlicher Herkunft, sexueller Orientierungen und unterschiedlicher religiöser Sozialisation emotionale und spirituelle Heimat wie Teilhabe finden. Wenn wir dieser Verpflichtung verantwortlich nachkommen, werden wir auch ertragen können, dass Menschen Spiritualität bewusst auch außerhalb unserer Räume suchen.14
Anmerkungen
1 Vgl. Reiner Knieling, Männer und Kirche. Konflikte, Missverständnisse, Annäherungen, Göttingen 2010, S. 5f
2 So z.B. Reiner Knieling/Andreas Ruffing (Hg.), Männerspezifische Bibelauslegung, Göttingen 2012 sowie www.jesusunddiemaenner.de (gemeinsame männertheologische Fachtagung der Ev. und Kath. Männerarbeit in Deutschland und Österreich sowie weiteren internationalen Kollegen aus dem Netzwerk geschlechtergerechte Theologie), theoretisch vor allem Martin Fischer, Männermacht und Männerleid. Kritische theologische Männerforschung im Kontext genderperspektivierter Theologie, Göttingen 2008, S. 53ff sowie 179ff
3 Vgl. Martin Engelbrecht/Martin Rosowski, Was Männern Sinn gibt. Leben zwischen Welt und Gegenwelt, Stuttgart 2007, S. 21ff
4 Vgl. Martin Rosowski, Männlichkeiten und Spiritualität, in: Werkstatt Schwule Theologie, Frühjahr 2013
5 Vgl. Markus Theunert (Hg.), Männerpolitik. Was Jungen, Männer und Väter stark macht, Berlin 2012
6 Vgl. Engelbrecht/Rosowski, a.a.O., S. 150ff; auch Christoph Walser/Peter Wild, Men’s Spirit. Spiritualität für Männer, Freiburg 2002
7 Vgl. Richard Rohr, Die Männerbibel. Meditationen auf dem Weg zur Freiheit, S.21ff
8 Vgl. Meister Eckhart, Vom Wunder der Seele. Eine Auswahl aus den Traktaten und Predigten, Reclam
9 Dag Hammarskjöld, Markings, New York 2003, Aus der Widmung an Leif Belfrage, S. 5
10 Vgl. Rosowski, Männlichkeiten, a.a.O.
11 Vgl. Hans-Georg Wiedemann, Plädoyer für Männerfreundschaft, Stuttgart 1992, S. 130f
12 Vgl. Zur Freiheit hat Christus Euch befreit. Konzeption der Männerarbeit der EKD, Hannover 2009, S. 15f
13 Vgl. Knieling, Männer und Kirche, a.a.O., S. 75ff
14 Vgl. Martin Rosowski, Männer in der Kirche, Artikel auf www.geistreich.de/wissensreich