Als Dachverband von 39 evangelischen Frauenorganisationen werden die Evangelischen Frauen in Deutschland im Zusammenhang aktueller Ereignisse immer wieder nach ihrer Position zum muslimischen Kopftuch gefragt. Denn sei es im gesellschaftlich-politischen Bereich, und dabei zunehmend auch innerhalb der Frauenbewegung, sei es auf juristischem Feld: Das Thema ist virulent.
Wir sind der Meinung, dass die Frage, ob muslimische Frauen ein Kopftuch tragen sollen/müssen/dürfen, zunächst ein Diskurs innerhalb der muslimischen Community ist. Zugleich aber steht das muslimische Kopftuch immer wieder im Zentrum gesamtgesellschaftlicher Debatten mit großer emotionaler und symbolischer Aufladung. Darum nehmen wir als christlicher Frauenverband mit dem Anspruch auf Mitgestaltung der gesellschaftlich-politischen Diskurse und des gesellschaftlichen Zusammenlebens Stellung zu zentralen Aspekten des Themas.
UNSERE PERSPEKTIVE AUF DEN KOPFTUCHSTREIT
Wir reden dabei aus einer dreifachen Perspektive. Für uns als evangelische Christinnen ist Freiheit – und damit auch und gerade Religionsfreiheit – ein zentraler Wert und die Richtschnur unseres kirchlichen und gesellschaftlichen Denkens und Handelns. Konkret bedeutet das für uns auch, uns gegen jede Form von Zwang zu wenden und Menschen darin zu unterstützen und zu stärken, dies ihrerseits zu tun. Zweitens kommentieren wir das Thema als Frauen, die sich als Teil der Frauenbewegung definieren und mithin für Empowerment und Emanzipation von Frauen stehen. Und drittens schauen wir auf „das Kopftuch“ als ein Verband mit vielfältigen Erfahrungen im interreligiösen und interkulturellen Dialog, der diese Kompetenz einbringen will und kann zur Gestaltung einer Gesellschaft, in der alle friedlich zusammenleben können.
UNSERE KOMMENTARE ZU ZENTRALEN ASPEKTEN DES KOPFTUCHSTREITS
1. Das Tragen des muslimischen Kopftuchs ist als Teil der religiösen und kulturellen Vielfalt in Deutschland zu respektieren.
Deutschland ist seit Jahrzehnten zunehmend von religiöser und kultureller Vielfalt geprägt. Dies festzustellen ist keine Frage der Weltanschauung, sondern eine Beschreibung der Realität. Es muss einer oder einem nicht gefallen, dass muslimische Frauen in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen – aber man/frau muss es respektieren, solange dies nicht gegen geltendes Recht verstößt und die Freiheit anderer nicht einschränkt.
Die Realität wahrzunehmen und zu respektieren ist nicht nur aus Achtung vor der Entscheidungsfreiheit der einzelnen Frauen geboten, sondern darüber hinaus eine unabdingbare Voraussetzung für den gesellschaftlichen Integrationsprozess und damit ein unerlässlicher Beitrag zur Gestaltung einer Gesellschaft, in der Menschen jedweder religiösen oder weltanschaulichen Zugehörigkeit friedlich zusammen leben. Die Rede von einer deutschen Leitkultur – vermeintlich christlich-jüdischer Prägung – zu der Kopftuch tragende Frauen nicht „passen“, ist neben der Diskriminierung dieser Frauen eine ideologische Verschleierung der Realität, die dem gesellschaftlichen Frieden abträglich ist.
2. Ein Kopftuch – oder andere religiöse Symbole wie Kreuz oder Kippa – zu tragen, ist Ausdruck des Rechts auf das Bekenntnis zu einer religiösen Identität im säkularen Staat.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert in Art. 4 die so genannte Religionsfreiheit, genauer: die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des weltanschaulichen Bekenntnisses als unverletzliches Grundrecht. Dazu gehört nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch das Recht der oder des einzelnen, sein oder ihr gesamtes Verhalten an den Lehren seines/ihres Glaubens auszurichten. Diese allgemeine Religionsfreiheit impliziert unter anderem das Recht zum Tragen eines Kopftuchs beziehungsweise anderer religiöser Symbole – unabhängig davon, ob die / der jeweils andere oder die Mehrheitsgesellschaft dies nachvollziehen kann.
Der Staat ist zur weltanschaulich-religiösen Neutralität verpflichtet. Dies bedeutet auch, dass er weder bestimmte Bekenntnisse privilegieren oder sich mit bestimmten Religionsgemeinschaften identifizieren noch Gläubige bestimmter Religionsgemeinschaften ausgrenzen darf. Die Zulassung eines Kopftuchs in öffentlichen Schulen bedeutet laut Bundesverfassungsgericht keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben. Umgekehrt ist ein generelles Kopftuchverbot verfassungswidrig.
Wir halten diese Bestärkung der Religionsfreiheit im säkularen Staat für den richtigen Weg. Darum treten wir entschieden gegen Tendenzen in Richtung eines laizistischen Modells der vollständigen Trennung von Staat und Religion ein.
3. Das muslimische Kopftuch kann verschiedene Bedeutungen haben. Die Deutungshoheit und Definitionsmacht aber liegt ausschließlich bei der Trägerin des Kopftuchs.
Muslimische Frauen haben und nennen unterschiedlichste Gründe, warum sie ein (oder kein) Kopftuch tragen. Neben dem Kopftuch als Ausdruck des religiösen Glaubens kann es beispielsweise für junge Musliminnen mit Migrationshintergrund eine Möglichkeit sein, ihre Verbundenheit mit der kulturellen und religiösen Herkunft ihrer Familie zum Ausdruck zu bringen – was keineswegs mit Ablehnung der deutschen Gesellschaft verbunden sein muss. Für muslimische Frauen mit Migrationsgeschichte kann das Tragen des Kopftuchs schlicht eine Gewohnheit sein, die nichts mit religiösen oder politischen Intentionen zu tun hat. Islamist_innen wiederum nutzen das Kopftuch als Symbol im Kampf um einen islamischen Staat, während muslimische Laizist_innen für das Verbot des Kopftuchs stehen.
Dabei wird muslimischen Frauen, die ein Kopftuch tragen, oft pauschal abgesprochen, selbst denkende und sich selbst bestimmende Personen zu sein. Je nach Position oder Interesse derer, die auf das Kopftuch sehen, wird es von außen als „Symbol für…“ interpretiert. Nicht selten werden dabei Islam und Islamismus gleichgesetzt und wird in einem Zuge die muslimische Kopftuchträgerin als Vertreterin eines fundamentalistischen Islam mit antidemokratischen Einstellungen interpretiert.
Wir halten dagegen: Das Kopftuch mag für fundamentalistische Extremist_innen die „Flagge des Islamismus“ sein. Für alle anderen ist sie es nicht. Was es für eine Muslima bedeutet, dass sie ein (oder kein) Kopftuch trägt, definiert diese selbst – und niemand sonst.
4. Ob muslimische Frauen ein Kopftuch tragen oder nicht, ist per se weder ein Indiz für Unterdrückung noch für Emanzipation.
Kleidungsstücke anzuziehen (Hosen, kurze Röcke etc.) oder auszuziehen (Korsett, BH und auch Kopftuch etc.) war für viele Frauen der 2. Frauenbewegung ein Akt und zugleich ein öffentliches Zeichen der Emanzipation und des Anspruchs auf Gleichberechtigung. Insofern verwundert es nicht, wenn Frauen in Deutschland vor diesem persönlichen beziehungsweise generationenübergreifenden Erfahrungshintergrund dem öffentlichen Tragen des muslimischen Kopftuchs mit ambivalenten Gefühlen begegnen.
Erzwungene – und oft öffentlich zelebrierte – Entschleierung muslimischer Frauen war noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein eine der Maßnahmen, mit denen westliche Kolonialherren ihre „kulturelle Überlegenheit“ über die „rückständigen“ muslimischen Gesellschaften der kolonisierten Länder demonstrierten. Insofern verwundert es nicht, wenn muslimische Frauen in Deutschland vor diesem generationenübergreifenden Erfahrungshintergrund in dem Ansinnen, kein Kopftuch (mehr) zu tragen, diese kolonialistischen Muster wiedererkennen und der – ausgesprochenen oder heimlichen – Erwartung, das Kopftuch abzusetzen, mit ambivalenten Gefühlen begegnen.
Tatsächlich aber sagt das Tragen eines Kopftuchs an sich nichts darüber aus, ob die Trägerin unterdrückt wird oder emanzipiert ist. Wer für Empowerment, Emanzipation und Gleichberechtigung für Frauen eintritt und arbeitet, sollte sich erinnern: Keine Frau ist jede Frau. Es galt und gilt zu akzeptieren und zu respektieren, dass es für jede Frau(enbewegung) unterschiedliche Wege zur Gleichberechtigung gibt.
5. Die Entscheidung über ihre Kleidung – einschließlich Kopftuch – gehört zum Selbstbestimmungsrecht jeder Frau.
Kleidervorschriften für Frauen waren schon immer und sind bis heute ein bevorzugtes und wirkmächtiges Instrument zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen innerhalb wie außerhalb religiöser Organisationen. „Das eine Patriarchat verhüllt die Frauen, zieht sie an; das andere, unser Patriarchat, zieht die Frauen aus.“ (Christina von Braun)
Für die Beurteilung solcher Vorschriften spielt es keine Rolle, was und wie viel Frauen ausziehen oder was und wie viel Frauen anziehen sollen. Zur grundgesetzlich garantierten freien Entfaltung der Persönlichkeit gehört auch das Recht jeder Frau, frei über ihre Kleidung zu entscheiden. Von der Umsetzung dieses Rechts in gesellschaftliche Realität sind wir weit entfernt. Es braucht weiterhin das entschiedene Eintreten von Feministinnen – mit oder ohne Kopftuch.
6. Ein „kulturelles“ oder gar gesetzliches Kopftuchverbot ist keine Antwort auf erzwungenes Tragen eines Kopftuchs.
Zweifellos gibt es muslimische Mädchen und Frauen, auf die in ihren Herkunftsfamilien oder in anderen Kontexten der Religionsgemeinschaft Druck zum Tragen des Kopftuchs ausgeübt wird. Das erzwungene Tragen eines Kopftuchs lehnen wir selbstverständlich ab. Ein generelles gesetzliches Verbot – auch und erst Recht für Minderjährige – lehnen wir jedoch ebenso entschieden ab. Es gehört zu den Errungenschaften einer freien Gesellschaft, dass der Staat keine Kleidervorschriften erlässt. Zudem träfe ein solches Verbot zunächst einmal nicht die Täter_innen, sondern die Opfer. Statt Mädchen und Frauen, die zum Tragen eines Kopftuchs gezwungen werden, zum Beispiel durch niedrigschwellige Angebote der Beratung und Begleitung zu stärken, bestünde die Gefahr, dass sie in die Isolation getrieben würden.
Umgekehrt lehnen wir es genauso entschieden ab, dass muslimische Mädchen und Frauen, die ein Kopftuch tragen, diskriminiert werden, beispielsweise bei der freien Berufswahl, dass sie öffentlich beleidigt oder sogar mit Gewalt angegangen werden.
Zudem halten wir es für wichtig wahrzunehmen, dass Forderungen nach einem Kopftuchverbot keineswegs immer im Interesse der Gleichberechtigung muslimischer Mädchen und Frauen erhoben werden. Häufig dienen sie lediglich dazu, antiislamische Stimmung in der Bevölkerung zu machen beziehungsweise zu verstärken und die Gesellschaft zu polarisieren, indem sie ein künstliches Gegenüber von „wir“ und „die“ erzeugen. Diese Verschleierung eines fremden- und einwanderungsfeindlichen Diskurses auf dem Rücken von Frauen ist für uns inakzeptabel.
VIELFALT IM DIALOG GESTALTEN
Wir wollen und setzen uns dafür ein, dass unsere Gesellschaft sich weiter zu einem Gemeinwesen entwickelt, in dem Menschen mit vielfältigen religiösen, kulturellen und weltanschaulichen Zugehörigkeiten friedlich zusammen leben.
Dazu braucht es unter anderem die „Erlaubnis“, wechselseitige Ambivalenzen und Vorurteile der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppierungen wahrzunehmen und zuzulassen – und die Entschlossenheit, sie nicht zur bewussten oder unbewussten Handlungsmaxime werden zu lassen.
Dazu gehört die Bereitschaft aller Beteiligten, Fremdheitsgefühle und eigenes Befremden angesichts der jeweils anderen Religion oder Weltanschauung wahrzunehmen und dies auch in den Dialog einzubringen – und die Gelassenheit, die aus der Erfahrung erwächst, dass wir uns im Laufe der Zeit an vieles gewöhnen und für „völlig normal“ halten, was uns zunächst als geradezu skandalös erscheint.
Dazu gehört das Interesse daran, die Motive der jeweils anderen für ihre speziellen Verhaltensweisen zu verstehen – und, nicht zuletzt, die Bereitschaft, ihre Grundrechte zu respektieren.
Gelingender Dialog ist die Grundlage dafür, dass in unserer Gesellschaft die Regeln des Zusammenlebens in Frieden und Freiheit immer wieder neu miteinander ausgehandelt werden können.
Als evangelische Christinnen in Deutschland können wir einige historische und aktuelle Erfahrungen als Potenzial in diesen Prozess einbringen. Dazu gehört die Erfahrung der christlichen Kirchen, dass Religionsfrieden möglich ist – auch wenn der Einsicht jahrzehntelange furchtbare Kriege vorausgegangen sind und das ökumenische Lernen Jahrhunderte brauchte. Dazu gehört die Erfahrung der Friedlichen Revolution, dass nichtgewaltsame Lösungen auch unter schwierigsten Voraussetzungen möglich sind.
Und dazu gehört, nicht zuletzt, unsere vielfache Erfahrung, dass Frauen unterschiedlicher Religionen und Kulturen – insbesondere im Nahbereich des Zusammenlebens – konkrete Herausforderungen des Alltags im Sinne eines guten Lebens für alle erkennen und meistern. Gerade in solchen interreligiösen und interkulturellen Kooperationen und den daraus gewachsenen Netzwerken lernen wir – manchmal staunend und mit fruchtbarem Stutzen angesichts der Erkenntnis eigener Ambivalenzen und verinnerlichter Vorurteile – täglich neu, dass es keinen eindeutigen inneren Zusammenhang zwischen der Kleidung und dem Selbstbewusstsein, den Kompetenzen und dem Engagement einer Frau gibt.
(Beschlossen von der Mitgliederversammlung der Evangelischen Frauen in Deutschland e.V. (EFiD) im November 2017)